Es gibt Dinge, die bleiben einem für alle Zeiten unvergesslich in Erinnerung – sind gerade dort eingebrannt. Zu dieser Kategorie von Erinnerungen gehört unabdingbar meine erste Begegnung mit Michael Lohmann auf Facebook.
Ich war noch ziemlich neu auf dieser Plattform aktiv und wusste praktisch gar nichts. Und wenn ich gar nichts sage, dann meine ich absolut überhaupt gar nichts. Denn eine meiner typischsten Eigenschaften ist meine mir angeborene extrem übersteigerte Naivität, von der die meisten derer, die mit mir zu tun haben, glauben, sie sei eine perfide Erfindung von mir, um mein Licht ordentlich unter den Scheffel stellen zu können. Dem ist aber nicht so. Denn der Wesenszug, mich kleiner zu machen, als ich bin, ist mir fremd. Denn ich bin froh, wenigstens so groß zu sein, wie ich tatsächlich bin.
Sei’s drum…
Ich war also da, wusste nichts und geriet an eine Gruppe angehender Autoren, wenn ich mich recht erinnere. Und in dem aktuell ganz oben stehenden Post wurde man aufgefordert, den ersten Satz seines derzeit in Arbeit befindlichen Werks zu posten. Das fand ich lustig, und so tat ich wie geheißen und postete den folgenden Satz:
»Wenn Jonathan Simpson seinen Blick von der Veranda des obersten Stockes seines Hauses in Bonaire über die alten Patrizierhäuser schweifen ließ, die zwischen ihm und dem alten Hafen lagen, dann pries er stets das Schicksal, das ihn einst hierher geführt hatte.«
Das Ergebnis war, dass ein gewisser Michael Lohmann nach wenigen Augenblicken folgenden Kommentar schrieb: »OMG!«
Muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass mir der Sinn der Buchstabenfolge OMG nicht geläufig war? Er war es deshalb nicht, weil ich bis dato ausschließlich ein Mensch gewesen war, der in der schnöden Welt der Realität gelebt hatte, in der beredte Buchstabenfolgen, wie OMG oder LOL einfach nicht vorkamen. Das mag einem heute unglaubhaft erscheinen, entspricht aber der reinen Wahrheit. Ehrlich!
OMG: Schachtelsätze!
Nachdem ich mich mal wieder nicht entblödete, auf Lohmanns Kommentar hin zu fragen, was es denn mit dieser geheimnisvollen Buchstabenfolge auf sich habe, antwortete dieser, OMG stünde für ›Oh mein Gott‹ und für größtmögliches Erschrecken, Erstaunen, Verwunderung und was es noch so alles in dieser Kategorie gibt. Und, dass – käme ihm beim unvorbereiteten Aufschlagen eines unbekannten Buchs, ein solcher Anfang unter die Augen –, er dieses auf der Stelle zuschlagen würde, bevor er spontan erblinden müsse. Und – um dieser Gefahr für alle Zeiten zu entgehen – er dieses Werk nie wieder anrühren würde. Auf meine erstaunte Frage, was denn an dem Satz so furchtbar schlimm sei, erklärte er mir geduldig, dass derart lange und verschachtelte Sätze in zeitgenössischer Literatur nichts, aber auch gar nichts zu suchen hätten. Und schon gar nicht sei es denkbar, dass in einer Literatur, die ernst genommen werden wolle, einer ›sein Schicksal preist‹.
Das erstaunte mich damals sehr…
Umso mehr, als mir sehr schnell klar wurde, dass es sich bei diesem Michael Lohmann mitnichten um irgendwen handelte, sondern um einen sehr renommierten und erschreckend kompetenten Lektor mit bester Reputation.
Ich gebe gerne zu, dass mir das Bilden komplizierter, ineinander verschachtelter Sätze noch heute viel Freude bereitet. Gleichwohl hat mich nicht nur die Begegnung mit Texten von Raymond Chandler eines Besseren belehrt, sondern hatte ich mittlerweile auch die Freude, meine eigenen Texte laut vorlesen zu dürfen. Und spätestens an dieser Stelle war es mit der Freude an diese Wortgebilden vorbei. Denn als Vorleser neigt man bei ihnen doch sehr zum Stolpern. Und das muss nicht sein.
Daher stößt man bei meiner Reaktion auf die Challenge, die vom geschätzten Kollegen Cliff Allister an mich gerichtet war und mich (mal wieder) aufforderte den ersten Satz meines neuesten Werks zu posten, auf die folgenden zwei Sätze (denn ich arbeite gerade parallel an zwei Fortsetzungen):
- Jonathan fokussierte sich auf die Signale des Tantors.
(Aus Die Mission, HELDEN, Teil 2 einer epischen Saga um das Schicksal des bekannten Universums) - »Irgendwas läuft schief.«
(Aus Die Dekade der Androidin, Fortsetzung meines Cyberpunk-Romans Das GINGER-Komplott)
In beiden Fällen kann man nun wahrhaftig nicht von komplizierten Satzgebilden und schon gar nicht von Schachtelsätzen sprechen.
Schachtelsätze bei Kollegen?
Umso erstaunter bin ich allerdings, wenn ich vor diesem Hintergrund den von Cliff Allister als Einstieg in seinen neuesten Roman ›Der ewige Wächter‹ geposteten Satz lese:
Das Erwachen erforderte einen gewaltigen Aufwand und beanspruchte die technologischen Möglichkeiten der uralten Station bis an deren Grenzen.
Okay, das ist natürlich deutlich länger, als meine beiden Einstiege. So richtig komplex oder gar verschachtelt ist das aber natürlich trotzdem nicht.
Was aber schreibt der von mir nominierte Kollege Ivan Ertlov als Einstieg in seinen neuesten Roman?
Tausende Facetten perfekt geschliffener Kristalle, in gediegenen, goldbeschichteten Kronleuchtern, schickten Millionen huschende, funkelnde Lichterengel auf die Gesellschaft unter ihnen, die sich berauscht von edlem Champagner und kunstvoll vorgetragener Musik im Kreis bewegte.
Hossa, entfährt es mir da spontan. Da geht dann schon eher die Post ab, oder?
Ganz anders dagegen die von mir ebenfalls nominierte liebe Kollegin mit dem irreführenden maskulinen Pseudonym Siegmund Sagenroth. Deren erster Satz lautet:
Seine Schritte hallten in dem leeren Innenhof wider.
Na also, geht doch, möchte man spontan ausrufen …
Nein, im Ernst…
In Wirklichkeit entsprechen Satzgebilde oft der spontanen Lust des jeweiligen Autors. Mal gefällt man sich in einer spröden Sachlichkeit, mal drängt sich eine gewisse Lyrik in den Vordergrund und mal ist einem danach die Worte so richtig tanzen zu lassen. Und so wie mir, ergeht es wohl auch dem einen oder der anderen Kollegen*In.
Gleichwohl verneige ich mich immer wieder neu vor dem großen Kollegen Raymond Chandler, der konsequent seinen kurzen und einfachen Sätzen treu geblieben ist. Und der damit Bilder in den Kopf des Lesers zaubert, die jene ganz eigene sehr klare Surrealität in sich tragen, die seine Bücher so unverwechselbar macht.
Hatte ich übrigens schon erwähnt, dass Michael Lohmann – zusammen mit Elsa Rieger – meinen Kampfengel lektoriert hat? Und natürlich wird er auch bei den Fortsetzungen mit dabei sein – sofern er Lust hat. Und davon ist fast sicher auszugehen. Denn immerhin hat er mir im Verlauf des KAMPFENGEL mitgeteilt, dass er den Höchstwert seines Wortzähl-Algorithmus für die Zeit unserer Zusammenarbeit deutlich nach oben korrigiert hat. Weil er diese langen Sätze bei mir auf Sicht für unvermeidbar hält und sie intern längst unter ›Stil‹ führt …
Ja, so kann’s kommen.
Herzlichst, Ihr